Zwar habe ich
schon einmal teilgenommen am Orchester-Workshop, ich habe im Orchester Geige
gespielt und mich durch die „schnellen Stellen“ durchgepfuscht. „Gut pfuschen
ist halb gewonnen“, hat ein Instrumentallehrer zu mir gesagt, aber ein Jahr
später fahre ich das erste Mal nach Henley.
Ich bin noch nicht in Großbritannien gewesen, habe in der Schule gerade mal zwei
Jahre Englisch gelernt. Und plötzlich sitze ich in einem Reisebus beladen mit
lauter Schülern und Lehrern der Musikschule und etlichen Instrumenten. Die
meisten Teilnehmer kenne ich aus der Schule, aus der Musikschule und unterhalte
mich gut auf der langen Busfahrt, was mich ablenkt von jeglichen Gedanken an
Aufregung. Erst auf der Fähre von Calais nach Dover bringen der Gedanke an das
näher rückende fremde Ziel und der Seegang ein merkwürdiges Gefühl in der
Magengegend. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals sieht alles ganz anders aus
als im zurückgelassenen Deutschland. England sieht aus wie ich es mir
vorgestellt hatte. Der Zwischenstopp in Canterbury bestätigt mein Traumbild von
diesem Land. Hier in Canterbury lerne ich die Tücken des Linksverkehrs kennen,
hier begegne ich den ersten Engländern, hier höre ich die ersten englischen
Wörter aus den Mündern von Engländern in England. Diese Wörter klingen anders
als die, die ich bisher in der Schule oder in Songs mit englischen Texten im
Radio gehört habe. Die Verkäufer in den Geschäften lächeln ununterbrochen, ohne
aufdringlich zu wirken, und singen in ihrer Sprache eine Begrüßung, wie viel man
für seinen Einkauf zu bezahlen hat und ob man eine Tüte braucht.
„Autobahn um London und Stau, das gehört einfach zusammen“, heißt es, und so
steht auch unser Bus auf der Weiterfahrt in einer kilometerlangen, ermüdend
langsam voran kriechenden Autoschlange der Rushhour.
Längst haben wir unsere Teilnehmerlisten bekommen und studiert. Die, die zum
ersten Mal dabei sind, kennen die Namen derer, bei denen sie wohnen werden,
nicht. Aber meine Austauschpartnerin soll „wahnsinnig nett“ sein, versichert mir
ihre Gastgeberin vom letzten Jahr. Ich rate fürs Erste, wie der Name meiner
„Host“ ausgesprochen wird.
Mich beeindrucken die Häuser, die so anders aussehen als deutsche, die Gärten,
die Zäune und Mauern, die diese umgeben, die riesigen dunklen Hecken am
Straßenrand und das Kricketfeld kurz bevor die Durchsage kommt, dass wir bald da
sind. Und als wir da sind und am Busbahnhof in Henley ankommen, wüsste ich gerne
sofort, zu wem ich komme. Aber alle stehen im Gang des Busses, schauen hinunter
auf die Menschen, die vor dem Bus stehen und darauf warten, dass Mandy Beard
ihren Namen aufruft. Ich stehe zufällig so nah bei der Tür, dass ich den Namen,
den Mandy ruft, als den meinen identifizieren kann. Und sie sagt auch den Namen
meiner Host hinterher, sodass ich schon weiß, wie er denn tatsächlich
ausgesprochen wird. Ich steige also die Treppe hinunter und werde empfangen von
meiner Host Natalie und ihrem Vater. Im Auto verstehe ich wirklich nicht ein
Wort und muss, wenn mich einer der beiden etwas fragt, um eine Wiederholung
bitten, etwas langsamer, bitte.
Wir fahren durch Henley -on -Thames, das mir zu diesem Zeitpunkt noch so fremd
ist, und ich sehe Brücken und Ruderboote, die Themse, Geschäfte und alles ist so
englisch. Wir kommen am Haus an, ein wunderschönes Haus dicht gedrängt an das
nächste, vor der Tür drei Milchflaschen.
Ich gewöhne mich schnell an die englische Sprache, höre viel zu, beantworte
Fragen über Deutschland und habe selbst viel zu erzählen. Meine Hostfamily ist
sehr nett und ich fühle mich augenblicklich wohl, so wohl, dass ich vergesse,
meine Familie zu Hause anzurufen, um zu sagen, dass ich gut angekommen bin. Dass
das englische Essen nicht besonders gut ist, bekomme ich hier nicht bestätigt;
gut gesättigt schlafe ich ein.
Am nächsten Tag fallen die anderen Deutschen und ich in der Gillott’s School
auf, wohin wir unsere Austauschpartner begleiten; bunte Tupfen in einer Masse
dunkelblauer Schuluniformen. Der Unterricht ist anders als in Deutschland, was
den Schulbesuch äußerst interessant macht.
An diesem Freitag fangen nach der Schule die Proben im Christ Church Centre in
Henley an, das nur zehn Minuten Fußweg von „meinem Haus“ entfernt ist. Der
Dirigent, ist sehr geduldig und scheint Spaß zu haben an der Arbeit mit uns. Den
Spaß an unserem Projekt überträgt er auf alle anderen Teilnehmer, was mich und
wahrscheinlich auch alle anderen sehr motiviert. Ich sitze mit meiner Host
Natalie an einem Pult, ganz hinten in der zweiten Geige, wo es nicht so
auffällt, dass wir uns öfter unterhalten als erlaubt…
Die Proben sind unglaublich effektiv, ich lerne viel, was Spieltechniken und das
„Durchpfuschen“ angeht. Bis Sonntagabend muss das Programm fertig sein. Damit
dies zu schaffen ist, proben wir bis zu fünf Stunden am Tag, mit Pausen
zwischendurch, versteht sich. Am Sonntagmorgen ist im Church Centre Gottesdienst
und wir ziehen um in die Primary School, wo wir die letzten Feinschliffe
vornehmen an den verschiedenen Stücken, die an diesem Abend im Konzert gespielt
werden. Das Konzert ist gut besucht und das gesamte Orchester passt kaum in die
Kirche des Church Centre. Nach langem Rangieren und Aufrücken haben alle
Streicher genug Platz für ihre Bögen und die Bläser sind sicher, dass sie nicht
vom Podest fallen können. Alle Teilnehmer des Workshops sind versammelt, auch
die Jazzer, die an diesem Abend im Publikum sitzen. Der Applaus ist die
Belohnung für drei Tage harter, aber effektiver und lustiger Arbeit.
Montags fahren alle Musikschüler und Lehrer aus Leichlingen nach Oxford, Kultur
und Shopping in Englands Universitätsstadt. Die akute Maul- und Klauenseuche
erlaubt uns nicht den Einblick in die Parks und Säuberungsaktionen verbieten uns
den Zutritt zu den Universitätsgeländen. Über die Mauer zu schauen, muss
genügen. Mit platt gelaufenen Füßen und müden Beinen fahren wir wieder nach
Henley zurück und besuchen am Abend das Jazzkonzert in der Gillott’s School. Die
lockere Stimmung lässt vermuten, dass der Jazzworkshop insgesamt etwas weniger
stressig ist, was sich aber als falsch herausstellt, wenn man die Teilnehmer
danach fragt.
Dieser Abend ist der perfekte Ausklang der fünf Tage, voller Eindrücke, neuer
Gesichter und Freundschaften, neuer Sprachkenntnisse und Spaß, die ich in
England, in Henley on Thames verbracht habe. Leider sind diese viel zu schnell
vorübergegangen und am nächsten Morgen sitzen wir, nachdem wir uns von unseren
Gastfamilien verabschiedet haben, wieder im Bus zurück nach Leichlingen. Jetzt
heißt es, geduldig zu sein bis zum nächsten Jahr, bis zum nächsten Workshop, und
geduldig zu sein, bis es in zwei Jahren wieder nach England geht.
Das alles liegt jetzt vier Jahre zurück, wir schreiben das Jahr 2005, meine
erste Austauschpartnerin spielt seit unserem dritten gemeinsamen Workshop nicht
mehr Geige, ich habe mittlerweile eine andere Host und fahre auch dieses Jahr im
September wieder nach England, zum vierten Mal, um im Orchester mitzuspielen.
Ich werde eine der ältesten Teilnehmer sein, eine von den „Großen“. Wie die Zeit
vergeht…
Wenn es die Aufgabe des deutsch-englischen Orchester- und Jazzworkshops von
Leichlingen und Henley on Thames ist, die Kommunikation beider Länder zu
fördern, dann erfüllt er diese Aufgabe mit voller Punktzahl.
Meine „neue Host“, seit zwei Jahren, ist eine sehr gute Freundin von mir
geworden und bei unseren Abschieden fließen immer Liter von Tränen (die, die uns
kennen, können das bezeugen…).
Für die unvergesslichen Eindrücke und Momente, die sozialen wie musikalischen
Erfahrungen und Weiterentwicklungen an die Musikschule und unsere Freunde in
Henley: